Der Völkermord an den Sinti und Roma Europas begann nicht erst im Dezember 1942 oder Frühjahr 1943. Der Völkermord begann vor der eigenen Haustür, in der eigenen Nachbarschaft, mitten in Deutschland, in Baden und Württemberg, Hessen und der Pfalz, im Rheinland und in Hamburg, im Mai 1940. Auf Wunsch der Wehrmacht wurden die ersten familienweisen Massendeportationen eingeleitet. Polizei und Gemeindeverwaltungen waren die Hauptakteure. Das Stichwort „Hohenasperg“ mag hier im Stuttgarter Raum genügen.
Diese erste Deportationswelle war die „Generalprobe zum Völkermord“ (Wolfgang Benz). Im Grunde war es seine erste Stufe. Es war der Beginn einer Eskalation von der Ausgrenzung bis hin zur systematischen Auslöschung. Die Schwelle zum Massenmord wurde überschritten. 80 Prozent der im Mai 1940 ins „Generalgouvernement“, ins vom nationalsozialistischen Deutschland besetzte Polen verschleppten knapp 3.000 Sinti und Roma überlebten nicht.
Mit der Ausweitung des deutschen Vernichtungskrieges in Europa radikalisierte sich auch der Völkermord an den Sinti und Roma.
Bis Mitte 1942 waren schon Zehntausende von ihnen dem Morden der Deutschen und ihrer Verbündeten zum Opfer gefallen. Tausende waren längst in den Konzentrationslagern umgekommen, einige Hundert von ihnen durch Gas ermordet worden. In der Sowjetunion, im Baltikum und im Generalgouvernement wurden Sinti und Roma durch Massenerschießungen der SS-Einsatzgruppen, der Polizei und der Wehrmacht ermordet.
In Serbien, wo ab März 1942 Juden vergast und erschossen wurden, meldete der SS-Gruppenführer Turner, Leiter des Verwaltungsstabes beim deutschen Militärbefehlshaber, am 29. August 1942: „Serbien einziges Land, in dem Judenfrage und Zigeunerfrage gelöst.“ Systematischer gingen aber im benachbarten Kroatien die faschistischen Ustascha vor. Sie erließen am 19. Mai 1942 den Befehl, alle Roma in Kroatien in das Konzentrationslager Jasenovac zu verschleppen. Auch hier waren Soldaten und Polizisten, Bürgermeister und Nachbarn beteiligt. Auch hier wurden Häuser, Eigentum, Tiere den Roma weggenommen und an Nachbarn verteilt. Bis Sommer 1942 wurden fast alle Roma im Lager Jasenovac ermordet.
Diese wenigen Beispiele zeigen: Der Völkermord an den Sinti und Roma war ein gesamteuropäisches Verbrechen im nationalsozialistischen Machtbereich. Es gab nicht die eine Entscheidung für den Völkermord, sondern auch hier, um das Wort von Hans Mommsen aufzunehmen, eine kumulative Radikalisierung.
Warum dann aber der 16. Dezember 1942? Was macht dieses Datum in der Geschichte immer weiterer Eskalationen so bedeutend?
Der überwiegende Teil der deutschen Sinti und Roma war längst in Sammellager gezwungen worden. Die Sterilisation der meisten von ihnen war faktisch beschlossen. Mit dem Befehl Himmlers vom 16. Dezember 1942 wurde jedoch eine neue Eskalation des Mordens ausgelöst – was teilweise im Wortlaut des Befehls selbst und teilweise in der Handlungspraxis der deutschen Stellen bei der Ausführung des Befehls begründet war.
Dieser sogenannte „Auschwitz-Erlass“, der nicht im Original, aber durch den „Schnellbrief“ des Reichskriminalpolizeiamts vom 29. Januar 1943 erhalten ist, vereinheitlichte die Verfolgung. Er mündete in die Deportation von etwa 22.700 Sinti und Roma nach Auschwitz-Birkenau, wo im Februar 1943 der Lagerabschnitt B IIe abgetrennt und zum „Zigeunerfamilienlager“ erklärt wurde. Fast alle von ihnen wurden ermordet, die letzten beinahe 4.300 Überlebenden am 2. August 1944.
Diese Systematisierung der Vernichtung war eine Fortsetzung der zuvor schon praktizierten Deportationspolitik. Die Radikalisierung wurde durch die Konkurrenz zwischen den beteiligten Stellen im nationalsozialistischen Machtapparat noch befördert. Robert Ritter und seine Rassehygienisches Forschungsstelle beim Reichsgesundheitsamt und das damit eng verbundene Reichskriminalpolizeiamt sowie SS-Ahnenerbe und die Parteikanzlei waren an diesem Prozess beteiligt, Himmler, Bohrmann und Goebbels intervenierten. Es wurden Ausnahmen von der schon angeordneten „Vernichtung durch Arbeit“ diskutiert. Die Rede war davon, dass „reinrassige Zigeuner“ womöglich in ein „Reservat“ im Generalgouvernement gebracht werden oder auch in einer Art „indischer Legion“ kämpfen könnten. Der scheinlogische, binnenrationale Irrsinn, die Absurdität des NS-Rassenideologie zeigte sich in diesen im September 1942 einsetzenden Auseinandersetzungen deutlich.
Der Himmler-Befehl vom 16. Dezember 1942 entschied zuvor umstrittene Fragen. „Reinrassige“ Sinti und „sozial angepasste“ Sinti-„Mischlinge“ sollten demnach von der Deportation nach Auschwitz ausgenommen werden, alle anderen waren in einer Aktion von wenigen Wochen in das Konzentrationslager Auschwitz zu verschleppen. Die Formulierung Himmlers bzw. des Reichskriminalpolizeiamts für die Opfer lautete: „Zigeunermischlinge, Rom-Zigeuner und nicht deutschblütige Angehörige zigeunerischer Sippen balkanischer Herkunft“ oder in Kurzfassung „zigeunerische Personen“.
Die nach dem 16. Dezember entbrennende, detailreiche Debatte darüber, wer in der nicht so eindeutigen Realität als „reinrassig“ oder „sozial angepasst“ zu gelten habe, will ich uns nicht nur aus Zeitgründen ersparen. Zilli Schmidt, die uns am 21. Oktober mit 98 Jahren verlassen hat, wurde 1955 vom Entschädigungsamt noch geprüft, ob sie wirklich „reinrassige Lalleri-Zigeunerin“ war, sie wäre dann doch gar nicht nach Auschwitz gekommen.
Kriminalpolizei, Kreise und Kommunen nutzten den Auschwitz-Erlass, um möglichst alle Sinti und Roma loszuwerden – so muss man es sagen. Den Kriminalpolizeistellen und ‑leitstellen oblag letztlich die Entscheidung, die sog. „sozial angepassten“ „Mischlinge“ zu benennen, die von den Deportationen auszunehmen waren. Der Ermessensspielraum der Polizei war gewaltig, wie die Abschnitte II.4. und IV.8. des „Schnellbriefes“ zeigen. Und er wurde zur Verhaftung und Verschleppung genutzt und machte auch vor den in Nazi-Logik „Reinrassigen“ nicht halt, die zumeist ebenfalls deportiert wurden. Das entsprach der vom RKPA verfolgten Logik der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ durch Lagerhaft: Die Deportation ins Lager war in dieser Logik Sterilisierung und Zwangsarbeit vorzuziehen.
Auch viele Städte und Kreise wollten „zigeunerfrei“ sein und Behörden sich dabei hervortun. Sie nutzten dafür ihre Spielräume und entfalteten eigene Initiative. Von den Ausnahmeregelungen wurde nur selten Gebrauch gemacht, auch wenn es vereinzelt diese Ausnahmen gab, etwa für Sklavenarbeiter in Rüstungsbetrieben. Es wurde sogar der Wortlaut des Himmler-Befehls ignoriert, etwa bei der Verhaftung ausländischer Staatsangehöriger.
Das von den Nazi-Stellen gewählte Kriterium der sozialen Angepasstheit schützte nicht vor der Deportation. Veteranen des Ersten Weltkrieges, Hauseigentümer, Spender an Volkswohlfahrt und Winterhilfswerk, Stenotypistinnen, Arbeiter der Organisation Todt, Studenten an Konservatorien und Hunderte aktiver Soldaten – oft auf Fronturlaub, etliche Träger des Eisernen Kreuzes – waren unter den Deportierten, auch ein wohlhabender Geschäftsmann, dem es offenbar gelungen war, NSDAP-Parteigenosse zu werden, und eine Studentin, die auch BDM-Führerin war, beide wohl keine Einzelfälle. Aber selbst diese Überanpassung rettete sie nicht. Ihr Eigentum – auch das ist im „Auschwitz-Erlass“ zu lesen – fiel an den Staat und wurde zumeist öffentlich und für alle versteigert (Abschnitt IV.).
Schutz erhielten sie von niemand. Auch nicht von der Institution, von der sie ihn selbst häufig erbaten, der Katholischen Kirche.
Die große Welle der Märzdeportationen nach Auschwitz, deren 80. Jahrestag wir im kommenden Jahr begehen und an deren Vorgeschichte wir heute Abend erinnern, wurde durch den Himmler-Befehl vom 16. Dezember 1942 in Gang gesetzt. Aus unkoordinierten Mordaktionen gegen viele Zehntausende an unterschiedlichen Schauplätzen in ganz Europa wurde die Vernichtungsmaschinerie des Völkermords.
Ob Stuttgart, Ravensburg oder andere Orte in unserem Land – spätestens mit diesen Deportationen endete das gemeinsame Leben von Deutschen, die Sinti oder Roma waren, und Deutschen, die keine Sinti oder Roma waren.
Das wird oft übersehen: Es wurden Menschen ermordet – und mit ihnen wurde auch ihre individuelle Geschichte ausgelöscht, sie wurden aus dem Gedächtnis der Nation getilgt, zu der sie sich zugehörig fühlten – was auch in anderen Ländern, etwa in Rumänien, der Fall war. Der Respekt vor diesen individuellen Geschichten von Menschen gebietet es, ihr Leben nicht in einer Kontinuität der Verfolgungsgeschichte unsichtbar zu machen.
Die Geschichte vor 1933 kannte Ausgrenzung, Verfolgung, sogar Mord. Aber sie war offen. Sinti und Roma hatten Handlungsmöglichkeiten, die sie ergriffen, sie gestalteten die Gesellschaften mit, die sie an den Rand zu drängen versuchten. Selbst ein junger Schüler wie Reinhard Florian empfand das Erlebnis einer tiefen Zäsur:
Bei seiner Einschulung 1929 „schien die Welt noch in Ordnung […] Wir hatten keine besonderen Schwierigkeiten […] Wir wurden behandelt wie alle Deutschen“. Auch „in den ersten Jahren nach 1933 […] ging es noch, aber etwa zwei Jahre später begannen dann die Verfolgungsakte […] 1935, da war ich zwölf Jahre alt, begann die Ausgrenzung in der Schule“
Und Zilli Schmidt konnte noch 1939 die Volksschule beenden, sie hatten Freunde oder wenigstens gute Bekannte unter den Nicht-Sinti, ihr Vater glaubte immer noch: „Der Hitler bringt doch nur die Verbrecher weg.“ Bis er schließlich doch im Sommer 1939 mit seiner Familie zu fliehen versuchte.
Der Zivilisationsbruch war auch ein Kontinuitätsbruch.
Vom früheren Leben sind oft nur Fotos als Fragmente geblieben.
Von 1933 an wurde individuelle Handlungsmöglichkeiten für die Verfolgten immer geringer. Aus Antiziganismus als sozialer Realität wurde Antiziganismus als ein Staatsziel. Die Verfolgung eskalierte schrittweise, von der schon 1933 einsetzende Ausgrenzung und Misshandlung per Gesetz, dem Ausschluss aus der sog. „Volksgemeinschaft“ über die völlige Verdrängung aus dem Stadtbild und die Konzentration in kommunalen Lagern seit 1935, die Überwachung und Entrechtung durch den „polizeilich-wissenschaftlichen Komplex“.
Ab Ende 1937 konnte die Kriminalpolizei jederzeit Menschen, die sie für „Zigeuner“ hielt, ohne Einspruchs- oder Kontrollmöglichkeit in Konzentrationslager verschleppen. 1938 wurde die „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ gegründet, die auf bestehender Polizeiarbeit und seit Ende des 19. Jahrhunderts gesammeltem Polizeiwissen aufbaute. Ende 1938 wurde ein früherer Erlass Himmlers für den weiteren Verfolgungsprozess bedeutsam. Darin ist von der „endgültigen Lösung der Zigeunerfrage“ die Rede. 1939 erfolgte die sogenannte „Festsetzung“, 1940 die erste Deportationswelle, am helllichten Tage, vor aller Augen.
Aber selbst während des Völkermords, selbst in Auschwitz kämpften die verfolgten, gequälten und ermordeten Sinti und Roma für ihre Würde und für ihre Liebsten, sie retteten Angehörige und andere, die in Not waren, wie Zilli, die immer wieder ihren Verfolgern entkam, aber die Ermordung ihrer Tochter nicht verhindern konnte, oder Alfreda Markowska, deren Geschichte als Retterin zahlreicher jüdischer und Roma-Kinder erst wenige Jahre bekannt ist.
Sie haben Widerstand geleistet, überlebt, ihre Mörder besiegt, neues Leben begründet.
Der Völkermord hat die Geschichte der Sinti und Roma nicht völlig zerstören können, auch wenn wir diese Geschichte erst wieder unter Schmerzen in das gemeinsame Gedächtnis einarbeiten müssen. Es ist eine Geschichte, die aus vielen, ganz unterschiedlichen Biographien besteht. Und darum ist es so passend an diesem Abend, dass die Vielfalt in der Gegenwart wieder aufgenommen wird und wir nicht nur auf den Völkermord blicken und auch nicht auf die so lange verweigerte Anerkennung und Erinnerung – das wäre mehr als ein eigener Vortrag –, sondern auch das Leben von Sinti und Roma, so vielfältig und individuell, wie es ist, kennenlernen.
Vortrag von Dr. Tim Müller, Wissenschaftlicher Leiter des VDSR-BW, am 16. Dezember 2022 im Erinnerungsort Hotel Silber, Stuttgart im Rahmen einer Kooperationsveranstaltung mit: Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber e. V., Arbeitskreis Sinti/Roma und Kirchen in Baden-Württemberg, Dienst für Mission, Ökumene und Entwicklung der Evangelischen Landeskirche in Württemberg (DIMOE).