Das Romanes-Sprachteam des VDSR-BW hat den ersten Rahmenplan für “Romanes als Identitätssprache” gemeinsam mit einer Handreichung für den Unterricht entwickelt. Das ist ein Meilenstein für unsere Sprachschule, der eine historische Einordnung verlangt.
In Deutschland ist das Romanes der deutschen Sinti und Roma als Minderheitensprache geschützt. Die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen (Sprachencharta) dient ausdrücklich dem Schutz und der Förderung von Regional- oder Minderheitensprachen als Teil des europäischen Kulturerbes. Mit dem umfassenden Regelwerk der Sprachencharta soll die Bewahrung dieser Sprachen gesichert und ihre Verwendung im privaten und öffentlichen Bereich unterstützt werden. Im Hinblick auf das Romanes der deutschen Sinti und Roma ist hier von staatlicher Seite lange Zeit wenig geschehen.
Zu den wenigen Ausnahmen gehört der Staatsvertrag des Landes Baden-Württemberg mit dem Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg (VDSR-BW), der ausdrücklich auch die Vermittlung von Sprache und Kultur erwähnt. Der VDSR-BW bietet seit 2018 eine Sprachschule von Sinti für Sinti an, um der bestehenden Nachfrage gerecht zu werden. Die RomnoKher-Studie 2021 bekräftigte den großen Wunsch von Minderheitenangehörigen, ihre Sprache besser zu lernen und damit zugleich ihre Identität, ihr Selbstbewusstsein und ihre Selbstwirksamkeit zu stärken.
Professionelles Lernmaterial existierte bisher jedoch nicht. Das hat sich nun dank der Unterstützung der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) geändert. Unter der Leitung des Sintos und Lehrers David Strauß und unter Mitwirkung der VDSR-BW-Sprachlehrenden Melody Klibisch konnte zum ersten Mal ein dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GER) entsprechender Rahmenplan für “Romanes als Identitätssprache” entwickelt werden. Damit ist der Weg für den professionellen Spracherwerb und Spachausbau eröffnet.
Historisch und kulturell bedingt konnte sich lange Zeit keine standardsprachliche Varietät des Romanes herausbilden. Gemäß der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen und dem Europäischen Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten müssen nicht nur sprachlich-kulturelle Aktivitäten unterstützt, sondern auf Wunsch der Sprecher und Sprecherinnen auch der Erhalt der Sprachen durch Schulunterricht ermöglicht werden. Aus historischen Gründen der Verfolgungssituation bestand dieser Wunsch lange nicht innerhalb der deutschen nationalen Minderheit der Sinti und Roma. Hier zeichnen sich Veränderungen in den jüngeren Generationen ab. Vor diesem historischen Hintergrund konnte das Romanes der Sinti aber – anders als einige osteuropäische Formen des Romanes, was aber aufgrund der spezifischen Distinktionsmerkmale des Romanes der Sinti nur zur systematischen Orientierung dienen und keine konkrete Anleitung bieten kann – bis in jüngste Zeit weiterhin keine Standardvarietät etablieren.
Während die wachsende Internetkommunikation der Sinti-Community über soziale Netzwerke nur begrenzt zur Stärkung einer standardsprachlichen Varietät beiträgt bzw. vielmehr deren dringende Notwendigkeit vor Augen führt, ist mit dem 2021 erfolgten Abschluss der Übersetzung der gesamten Bibel ins Romanes der Sinti ein Meilenstein gesetzt worden, der die Etablierung einer Standardvarietät ermöglicht. Die Sprachschule des VDSR-BW geht bereits erfolgreich von dieser erst jüngst etablierten Standardvarietät aus. Darauf konnte die Entwicklung eines dem GER entsprechenden Rahmenplans zum Spracherwerb aufbauen.
Mit dieser Weichenstellung wird auch das Dilemma aufgelöst, dass sich Romanes wie andere Minderheitensprachen zunehmender Wertschätzung als Identitätssymbol und Ausdruck kultureller Eigenständigkeit erfreut, die vielfältigen Vereinsaktivitäten bisher jedoch in Ermangelung einer verlässlichen Grundlage oft in Symbolpolitik ohne dauerhafte Wirksamkeit steckenbleiben (siehe dazu auch das „Handbuch der Sprachminderheiten“, Tübingen 2020). Es besteht hier den Erfahrungen des VDSR-BW und den massiv an den Landesverband herangetragenen Erwartungen zufolge vor allem bei Sinti, für die Romanes keine Muttersprache (mehr) ist und die dadurch einen Verlust kultureller Identität und eine Benachteiligung im eigenen Ausdrucksvermögen empfinden, sowie bei weiteren bereits romanessprachigen Sinti ein hoher Bedarf nach Vertiefung der sprachlich-kulturellen Selbstentfaltung.
Das vom VDSR-BW unter sachkundiger Leitung des als akademische Lehrkraft arbeitenden und der Minderheit angehörenden Experten David Strauß erstellte umfassende Konzept von „Romanes als Identitätssprache“ trägt diesem akuten Bedarf Rechnung. Für Romanes als Identitätssprache liegt nun ein GER-kompatibler Rahmenplan vor, der sich in seiner Systematik an den Rahmenplänen für Zweit- und Fremdsprachen orientiert. Auf dieser Grundlage soll aktuell ein professionelles Lehrwerk und Lernsystem für Romanes als Identitätssprache entstehen, das entsprechend dem GER auch dezidiertes Empowerment bedeutet, weil Sprache mit Kultur, Geschichte und Identität verbunden wird. „Romanes als Identitätssprache“ fördert auch nachweislich den allgemeinen Bildungserfolg von Angehörigen der nationalen Minderheit der deutschen Sinti und Roma.
Der Rahmenplan (“ROI – Romanes als Identitätssprache. Rahmenplan und Handreichung für den Unterricht”, hrsg. von David Strauß und VDSR-BW) kann von Minderheitenorganisationen beim VDSR-BW angefordert werden. Melody Klibisch steht hier als Ansprechpartnerin zur Verfügung.
Die RomnoKher-Studie 2021, “Ungleiche Teilhabe. Zur Lage der Sinti und Roma in Deutschland”, herausgegeben von Daniel Strauß, erscheint im Herbst 2023 in erweiterter Fassung beim Verlag VS Springer. Darin enthalten ist auch ein Beitrag von David Strauß über “Konzeptionelle Schriftlichkeit in der gesprochenen Sprache – die Hochsprache im Romanes”.
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