Ein Beitrag des wissenschaftlichen Leiters des VDSR-BW, Dr. Tim Müller, zum internationalen Gedenktag für die Opfer des Völkermords an den Sinti und Roma Europas
Am Nachmittag des 2. August 1944 wurde das „Zigeunerfamilienlager“ in Auschwitz-Birkenau „liquidiert“. Lastwagen rückten an, Hunderte von SS-Männern schwärmten in den Abschnitt B II e des Vernichtungslagers aus. Die SS stieß auf erbitterten Widerstand. Die Wachmannschaften brachen die versperrte Barackentür auf. Die inhaftierten Frauen – Sintezze und Romnija – griffen ihre Mörder an, kämpften, beschützten ihre Kinder, bis sie weggeschleppt wurden. Über 4.200 Menschen, Kinder, Frauen, ältere Männer, wurden an jenem 2. August in den Gaskammern ermordet. „In dieser Nacht“, berichtete der Zeitzeuge und Auschwitz-Häftling Alfred Fiderkiewicz später, „lag über dem Lager Rauch, der dichter war als Teer“. Die genaue Zahl der Ermordeten ist nicht zu ermitteln. Erst vor kurzem hat eine Auswertung aller verfügbaren Quellen durch die Historiker Helena Kubica und Piotr Setkiewicz von der KZ-Gedenkstätte Auschwitz zur neuen Bezifferung der Opferzahlen geführt.
Nicht nur hier zeigt sich, wie wenig wir bisher über den Völkermord an den Sinti und Roma wissen. Das Morden im Osten, wo Roma oft zusammen mit Juden erschossen wurden, ist erst seit den Forschungen von Martin Holler vor wenigen Jahren deutlicher geworden. In den Blick rückt auch nur langsam der europaweite Widerstand von Sinti und Roma, die sich der Verhaftung entzogen, andere retteten, sich in den Lagern widersetzten, sich Partisanenverbänden und der Résistance anschlossen. Die überlebenden Sinti und Roma in Deutschland mussten 37 Jahre warten, bis die Bundesregierung 1982 das Verbrechen des Völkermords anerkannte. In der Öffentlichkeit wurden sie missachtet. Die Täter, viele von ihnen weiterhin „Experten“ in Behörden, beherrschten das Reden über Sinti und Roma.
Dass sich das geändert hat, ist vor allem dem Kampf der Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma zu verdanken, die sich seit den 1970er Jahren formierte. Der von der Bürgerrechtsbewegung in der Öffentlichkeit durchgesetzte Doppelbegriff Sinti und Roma führte zur Sensibilisierung und löste das diffamierende Z-Wort ab (so wie in den USA das N-Wort aus dem öffentlichen Diskurs verbannt ist). Das war ein Gewinn an Menschenwürde: Umfragen zeigen, dass Sinti und Roma das Wort „Zigeuner“ fast ausnahmslos als diskriminierend ablehnen; es ist der Begriff, in dessen Zeichen der Völkermord geschah, das Wort der Täter, das im zivilisierten Gespräch keinen Platz mehr hat. Selbstorganisationen der Minderheit wie die Bundesarbeitsgemeinschaft RomnoKher oder die Hildegard Lagrenne Stiftung, auch der für die Grünen im Europäischen Parlament sitzende Sinto Romeo Franz und mitunter auch der VDSR-BW sprechen mittlerweile aber auch übergreifend von Menschen mit Romno-Hintergrund oder mit Romani-Background. Das Ziel ist, einen Begriff zu prägen, der zur Reflexion anregt und Differenzen überwindet – auch innerhalb der Minderheit. Denn ob die autochthone nationale Minderheit der Sinti und Roma gemeint ist, deren Status vom europäischen Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten garantiert wird, die nach 1945 als „Gastarbeiter“ nach Deutschland migrierten Roma aus Jugoslawien oder Griechenland, die längst deutsche Staatsbürger sind, die Bürgerkriegsflüchtlinge der 1990er Jahre oder Roma aus neuen EU-Staaten, die seit 2007 in die Bundesrepublik kommen – die Heterogenität und kulturelle Pluralität der größten europäischen Minderheit, in Wahrheit eine Vielzahl unterschiedlicher Minderheiten, wird im medialen und alltäglichen Sprachgebrauch mit dem Begriff „Sinti und Roma“ eher verdeckt als entdeckt.
Sinti sind seit 1407 im Heiligen Römischen Reich belegt. Sie wurden anfangs vielerorts willkommen geheißen und mit kaiserlichen Schutzbriefen versehen. Im Zuge der Türkenkriege wurden diese neuen Einwanderer, die ursprünglich einmal aus Indien kamen, auf dem Reichstag von Freiburg 1498 allerdings als Spione und Reichsfeinde geächtet und für vogelfrei erklärt. Die Ansiedlung wurde ihnen ebenso verwehrt wie die meisten Berufe. Es war die Obrigkeit, die sie zur permanenten Migration zwang – eine Überlebensstrategie. Aber Sinti wurde nicht nur vertrieben und verfolgt. Die Grenzen waren nicht undurchlässig, die Gesetze und Vorschriften bilden nur einen Teil der vielfältigen sozialen Praxis ab. Es gab Heiraten zwischen der Minderheit und der sie umgebenden Gesellschaft, und Sinti als Soldaten, Verwalter oder Polizisten konnten bis ins 18. Jahrhundert herausragende Stellungen bei deutschen Fürsten erlangen.
Das Zusammenleben blieb jedoch fragil und wurde schwieriger, als im Zuge von Industrialisierung und Nationalstaatsbildung die Erwerbsgrundlagen wegbrachen. Die Stellung der Minderheit blieb auch im Verfassungsstaat unsicher. In einem Schreiben an die württembergische Königin von 1818 etwa brachten ihre Sinti-Untertanen den Wunsch zum Ausdruck, „nichts mehr als nützliche Staatsbürger“ sein zu dürfen. Im Kaiserreich von 1871 waren Sinti von Anfang an Staatsbürger und doch Überwachung und Reglementierung ausgesetzt. Nicht nur Bayern, wo schon seit 1899 die „Zigeunerzentrale“ der Polizei angesiedelt war, tat sich in der Weimarer Republik 1926 durch ein diskriminierendes und verfassungswidriges „Zigeunergesetz“ hervor, sondern auch der – gerade anlässlich des 75. Jahrestags des Attentats auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 gewürdigte – Sozialdemokrat und spätere Widerstandskämpfer Wilhelm Leuschner 1929 mit einem „Gesetz zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ in Hessen. Verfassungskommentatoren und Verwaltungsjuristen stellten sich auf die Seite der Minderheit, die Parteien ließen das Vorurteil regieren.
Aber Antiziganismus war noch nicht Ziel der Politik. Die Mehrheit der deutschen Sinti und Roma führte vor 1933 ein selbstbestimmtes Leben. Männer kämpften für den Kaiser an der Front und wurden mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet – und noch 1939 zogen etliche Sinti als Wehrmachtsangehörige in den Zweiten Weltkrieg, bis sie spätestens 1942 aus dem Militär ausgeschlossen und oft direkt nach Auschwitz deportiert wurden. Viele deutsche Sinti und Roma waren bis 1933 wie andere Deutsche auch als Hausbesitzer und Nachbarn, Mieter und Vermieter, Arbeitgeber und Arbeitnehmer oder Vereinsmitglieder Teil der Gesellschaft, etliche kamen in Sport oder Musik zu Berühmtheit. Auch in ihre zumeist katholischen Kirchengemeinden waren sie integriert. Es half ihnen nichts: In Ravensburg erinnert heute ein Denkmal vor der St. Jodokskirche an die in Auschwitz ermordeten Gemeindemitglieder. Im katholischen Kinderheim St. Josefspflege in Mulfingen wurden junge Sinti untergebracht, deren Eltern deportiert worden waren. Eva Justin, die Assistentin des führenden NS-„Zigeunerexperten“ Robert Ritter – beide standen nach 1945 in Diensten der Stadt Frankfurt –, missbrauchte die Kinder und Jugendlichen als „Forschungsobjekte“. Nach Abschluss ihrer Doktorarbeit wurden sie am 9. Mai 1944 nach Auschwitz deportiert. Vier von ihnen überlebten, weil sie als „arbeitsfähig“ galten. Die übrigen 35 Kinder waren unter den mehr als 4.200 Menschen, die in der Nacht vom 2. zum 3. August 1944, heute vor 75 Jahren, durch Vergasung ermordet wurden.
In der öffentlichen Auseinandersetzung mit dieser Geschichte müssen heute noch immer negative Bilder zertrümmert werden, die die NS-„Zigeunerexperten“ der deutschen Gesellschaft eingepflanzt haben. Dabei geht es nicht nur um die Vergangenheit und nicht um eine Wiedergutmachung, die niemals zu erreichen ist, wo ganze Familien und Generationen dem deutschen Morden zum Opfer fielen. Es geht auch um die Anerkennung, die den Überlebenden und ihren von Traumatisierungen gekennzeichneten Nachkommen gebührt. „Ich bin eine Generation nach Auschwitz geboren und mit der beunruhigenden Vorstellung aufgewachsen, dass die humanistischen Ideale und republikanischen Utopien jederzeit widerrufbar sind. Mein Vater Heinz Strauß überlebte Auschwitz und Buchenwald. Meine Mutter, Maria Strauß, überlebte das Zwangslager Frankfurt-Dieselstraße. Ihre Wunden wurden übertragen in ein soziales Gedächtnis, und so werden wir Träger von Todesängsten“, erklärte der Vorstandsvorsitzende des VDSR-BW Daniel Strauß im letzten Jahr beim Gedenken an die Deportationen nach Auschwitz 1943.
Eine pluralistische Demokratie ist nur so gut, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht. Minderheit und „Mehrheitsgesellschaft“ sind in Deutschland weit gekommen bei der Anerkennung von Sinti und Roma auf Augenhöhe. Einige Bundesländer haben Staatsverträge mit den Vertretungen der Sinti und Roma geschlossen, Lehrpläne werden überarbeitet, für Antiziganismus wird sensibilisiert. Baden-Württemberg und dem VDSR-BW kommen dabei national wie international eine Vorbildfunktion zu. Doch körperliche Angriffe und menschenunwürdige Lebensbedingungen sind Alltag in Europa – auch in der Europäischen Union. In der Bundesrepublik nimmt „die Abwertung von Sinti und Roma“ wieder „kontinuierlich zu“, stellt die Leipziger Autoritarismus-Studie von Ende 2018 fest, 56 Prozent der Bevölkerung lehnen Sinti und Roma in ihrer Nachbarschaft ab. „Sinti und Roma sind die am stärksten diskriminierte Minderheit Europas“, erklärte der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Dezember im Landtag. Gerade erst hat der am 1. Juli 2019 veröffentliche Bericht des Beauftragten der Landesregierung Baden-Württemberg gegen Antisemitismus deutlich gemacht: „In Umfragen äußern sehr viel größere Bevölkerungsteile antiziganistische als antisemitische Einstellungen. […] Zu einer konsequenten und glaubwürdigen Bekämpfung von Antisemitismus und Rassismus gehört also auch die Überwindung des Antiziganismus“.
Gerade in Zeiten, in denen der Schutz von Minderheiten fragiler erscheint als zuvor und die Demokratie – die nach 1945 so lange funktioniert hat als ein delikat ausbalanciertes System von checks and balances, das die Menschenwürde und Grundrechte ins Zentrum stellt – von Kräften innerhalb und außerhalb dieser Republik zur Tyrannei der Mehrheit umgedeutet wird, ist für alle der Augenblick gekommen, sich der fundamentalen Bedeutung von Minderheiten für die Demokratie bewusst zu werden. Angriffe auf Sinti und Roma sind ein Angriff auf den „Grundkonsens unseres demokratischen Gemeinwesens“, betonte Winfried Kretschmann in der Landtagsdebatte um den Staatsvertrag zwischen dem Land und dem Landesverband. Er verteidigte die plurale Demokratie als die „Verfassungsordnung, die Minderheiten schützt und nicht ausgrenzt“. Das ist die Demokratie, die auf dem Spiel steht, wenn verbale und körperliche Attacken zunehmen und die Menschenwürde nicht mehr selbstverständlich als das Fundament der Republik, der Gesellschaft, Europas betrachtet wird.